Neben dem Hype um “Harry Potter” gab es kaum ein anderes Ereignis, das den deutschen Buchhandel so nachhaltig stimuliert und verändert hat wie die Einführung des japanischen Comics auf dem deutschsprachigen Markt in den 1990ern. Auch knapp 30 Jahre später dominiert der Manga mit seiner gewöhnungsbedürftigen Leserichtung von hinten nach vorne, von rechts nach links den Comicmarkt. Ein gutes Dutzend Verlage füttert das junge, lesehungrige Publikum mit an die Hundert Neuerscheinungen im Monat an. Und damit deckt die deutsche Verlagsbranche auch nur einen Bruchteil des Stoffes ab, der in Japan unters Volk kommt. Vor allem die Ursprünge der japanischen Comickunst, die Altmeister, die in den 1950ern und 1960ern das Medium revolutionierten, sind hierzulande größtenteils unveröffentlicht und unbekannt.
Reprodukt möchte in den kommenden Jahren diese Lücke schließen und die Wegweiser der 9. Kunst, deren Vermächtnis der heutige Manga ist, dem deutschen Publikum vorstellen. Mit HITLER und AUF IN DEN HELDENTOD! von Shigeru Mizuki haben wir dieses Frühjahr schon den Anfang gemacht. Im aktuellen Programm machen wir mit zwei literarischen Meisterwerken weiter:
ROTE BLÜTEN von Yoshiharu Tsuge
TANTE NONNON von Shigeru Mizuki
ROTE BLÜTEN ist eine kleine Sensation: Yoshiharu Tsuge, einer der Wegbereiter des alternativen Manga, hat 20 Jahre lang eine Übersetzung seiner Werke im Ausland abgelehnt. Jetzt erscheint sein Werk erstmals in Italien, Frankreich, Deutschland und den USA.
Yoshiharu Tsuge, geboren 1937 in Tokio, erneuerte den japanischen Comic, indem er Geschichten über das reale Leben einführte und sie mit wahrhaftigen Charakteren besetzte. Er entwickelte ein eigenes Genre, in dem autobiografische und fiktionale Elemente eine neue Form der Authentizität hervorbringen – den „Watakushi-Manga“ („Ich-Comic“). In den 1960ern und 1970ern feierte er mit seinem Auteur-Ansatz in Japan große Erfolge und wurde auch international wahrgenommen (u.a. von Art Spiegelman protegiert). Fünf Kinofilme entstanden auf der Grundlage seiner Comics. Eine persönliche Krise führte dazu, dass er sich in den 1980ern aus dem öffentlichen Leben zurückzog und seither auch nichts mehr veröffentlicht hat. Ebenso war es bis vor Kurzem nicht gestattet sein Werk zu übersetzen. Mit ROTE BLÜTEN können deutschsprachige Leser*innen diesen wegweisenden Künstler zum ersten Mal kennenlernen.
ROTE BLÜTEN enthält zwanzig Geschichten, die zwischen 1966 und 1973 entstanden sind. Mit seiner einzigartigen Stimme, die Selbstbeobachtung, Poesie und Mysterium vereint, gelangte er zu unerreichter Meisterschaft in der Sprache der Comics. In seinen Geschichten, die skurrile Figuren, Außenseiter, sprechende Salamander, Vagabunden oder stumme Familien bevölkern, erzeugt Yoshiharu Tsuge eine Atmosphäre, wie man sie heute aus Haruki Murakamis Romanen kennt.
Im Frühjahr 2020 wird mit DER NUTZLOSE MANN ein weiterer Band von Yoshiharu Tsuge erscheinen.
Ein weiterer epochaler Comicerzähler, der aus der Entwicklung des japanischen Comics nicht wegzudenken ist, ist der 2015 verstorbene Shigeru Mizuki, der ein fast erdrückendes Oeuvre von über 100 Büchern hinterlassen hat. Bis 2019 war auch Mizuki auf Deutsch komplett unveröffentlicht.
Mit AUF IN DEN HELDENTOD! und HITLER hat Reprodukt in diesem Frühjahr damit angefangen, Mizukis Werk auf Deutsch zugänglich zu machen. Neben Yoshiharu Tsuge war Mizuki einer der ersten, der reale und (auto)biografische Themen in Comics verhandelte. Parallel zu seinen geschichtlichen Erzählungen setzte er sich auch immer wieder mit der Geister- und Sagenwelt Japans auseinander (und inspirierte Autoren und Filmschaffende wie Hayao Miyazaki, z.B. in “Chihiros Reise ins Zauberland”). Seine Yōkai-Geschichten (Yōkai ist der Name für Geisterwesen aller Art) sind in Japan legendär und so allgegenwärtig wie bei uns Walt Disney und Astrid Lindgren.
TANTE NONNON gilt als eine seiner besten Erzählungen. Mizuki bebildert seine eigene Kindheit und damit auch Japan Anfang des 20. Jahrhunderts an der Schwelle zwischen Tradition und Moderne. Und er erzählt von den Ursprüngen seiner Faszination für die Yōkai und die japanische Folklore: Seine Eltern hatten die Witwe eines buddhistischen Mönchs bei sich aufgenommen, die liebevoll Tante NonNon genannt wurde. Die alte Dame weckte das Interesse des kleinen Shigeru für die Yôkai, die ihn und sein Werk so nachhaltig beeinflussen sollten. Shigeru Mizukis autobiografische Kindheitserinnerungen wurden 2007 auf dem Internationalen Comicfestival in Angoulême als erster Manga mit dem „Preis für das Beste Album“ ausgezeichnet.
Auch mit Shigeru Mizukis Werk machen wir in den kommenden Programmen weiter. Im Frühjahr 2020 erscheint mit KINDHEIT UND JUGEND der erste Teil seiner dreibändigen Comic-Autobiografie, in der er auf über 1500 Comicseiten sein Leben und die Geschichte Japans im vergangenen Jahrhundert resümiert.
Text und Bildmaterial von Filip Kolek
Reprodukt